Am 2. Dezember trat Ex-Kanzler Sebastian Kurz von allen politischen Ämtern zurück. Dieser Schritt war schon länger zu erwarten, insofern ist viel der Aufregung rund um diesen Rücktritt einfach Teil der politischen Operette. Von Interesse ist hier eher der Zeitpunkt des Rücktritts und die daraufhin begonnene Regierungsumbildung.
Finanzminister und ÖVP-Wien Chef Blümel meinte um die Mittagsstunde des 2. Dezember noch, dass er keineswegs „amtsmüde“ sei, folglich auch ein Rücktritt nicht im Raum stehe. Um 20.00 Uhr Abends trat er dann per online veröffentlichtem Video zurück. Bildungsminister Heinz Fassmann wiederum, erfuhr von seinem „freiwilligen Rücktritt“ offenbar aus den Medien. Er nahm diesen, immerhin seinen eigenen, Rücktritt zur Kenntnis, ließ aber ausrichten, dass es mit dessen „Freiwilligkeit“ nicht weit her sei. Das alles sieht nicht so aus, als ob es besonders lange vorbereitet gewesen sei. Viel eher weist es darauf hin, dass mit Kurz‘ Rücktritt von allen Ämtern auch ein großer Teil seiner verblieben Getreuen von der Partei entsorgt wurden. Dabei lieferte Kurz am letzten ÖVP-Parteitag (Sommer) noch einen Auftritt mit dermaßen hohen Zustimmungswerten, dass selbst der konservative Politikwissenschaftler Filzmaier davon sprach, dass Kurz am „Parteitag einem Sektenguru gleich“ inszeniert wurde. Nun ist er weg, der Kurz. Doch von einem Match der guten „christlich-sozialen ÖVP“ gegen die schlimme „türkise ÖVP“, wie es gerade vom sozialdemokratischen Spin heruntergebetet wurde, kann überhaupt keine Rede sein.
Kurz und seine Vertrauten wurden von den Länderchefs, den Vorsitzenden diverser Bünde und anderen mächtigen Playern in der ÖVP fallen gelassen, weil sie „aufgeflogen“ sind. Sie haben lange an Kurz festgehalten und es ist nur schwer vorstellbar, dass niemand von denen, die in jetzt abservierten etwas vom bunten Treiben im angeblichen „System Kurz“ wusste. Lange zeit belohnte er die Partei auch mit Wahlsiegen. Dafür wurde das alles in Kauf genommen. Es ging und geht dabei nicht um einen angeblichen weltanschaulichen Kampf „christ-sozial versus neo-liberal“, sondern um die Widersprüche der herrschenden Klasse zum Volk. Diese Widersprüche wollen gehandhabt, das Volk soll für eine Politik im Sinne des Kapitals gewonnen (oder zumindest ruhig gestellt) werden. Das konnte die Truppe rund um Kurz eine gewisse Zeitlang zur Zufriedenheit der Partei und der Kapitalisten erfüllen, nun konnte sie es aber nicht mehr gewährleisten, zu sehr erschien sie einem großen Teil der Bevölkerung als korrupt, abgehoben und machtversessen. Bis heute ist die ÖVP und besonders der Kreis um Kurz im Zuge der „Chat-Affäre“ schon mit zahlreichen Vorwürfen der Korruption und anderer übler Machenschaften konfrontiert. Dabei ist erst ein Drittel aller Chatprotokolle ausgewertet (100.000 von 300.000 Nachrichten). Wenn ein Drittel dieser Protokolle schon solche Folgen mit sich bringt, was könnte da bei den weiteren zwei Dritteln noch alles daherkommen? Die Frage die sich hier stellt ist eher, ob bestimmte ÖVP-Kreise mit Sicherheit wissen dass da noch etwas „Größeres“ kommt, oder ob sie einfach eine gewisse Risikoabwägung betrieben und präventiv ihren ehemaligen Shootingstar und die meisten seiner Getreuen fallen ließen. Beides ist möglich, dass es nun so schnell ging und noch dazu im taktisch eher ungünstigen Moment „mitten in der vierten Welle“, spricht eher dafür, dass gewisse Kreise mit Sicherheit wissen, dass „da noch was kommt“. Doch das sind hauptsächlich die inneren Probleme der Nachfolgepartei der austrofaschistischen „Christsozialen“.
Ein weiteres Problem der Herrschenden mit Kurz war, dass er es mit seinen Leuten einfach nicht zu Wege brachte, die Widersprüche des Kapitals zu großen Teilen der Bevölkerung politisch in den Griff zu bekommen. An der derzeitigen Hauptagenda der herrschenden Klasse, den Corona-Maßnahmen und den damit einhergehenden Verschlechterungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung, dem Abbau von Demokratie und Grundrechten, der Aushöhlung von Arbeitsrechten und schlussendlich auch der Impfkampagne, ist die Regierung kläglich gescheitert. Zwar ist ein Großteil der Bevölkerung geimpft und bisher sind die meisten Maßnahmen auch durchgegangen, doch wie es gerade die riesigen Demonstrationen letzten Wochen zeigen, brachte es die Regierung in keiner Weise zusammen, die Massen wirklich zu überzeugen und politisch hinter sich zu versammeln. In der Bevölkerung herrschte die längste Zeit ein gewisser Pragmatismus gegenüber den Maßnahmen und insbesondere in der Impffrage vor. Doch dieser Pragmatismus droht (gerade in der Impffrage) immer mehr in offene Ablehnung zu kippen, zunehmend artikuliert sich Widerstand. Schlussendlich war es das Versagen die „Herzen und Köpfe“ der breitesten Teile der Bevölkerung für diese Agenda zu gewinnen, das Kurz und seine Leute für das Kapital politisch unbrauchbar machte. Man könnte sagen: Kurz und seine Getreuen scheiterten daran, dass sie die Massen unterschätzten, sie dachten, es wäre ein leichteres Spiel sie zu überzeugen und für ihre Pläne zu gewinnen. Das stellte sich als Irrtum heraus. Dass dieser Widerspruch in der ganzen Frage viel Gewicht hatte, zeigt sich auch daran, dass Bildungsminister Fassmann unfreiwillig Betroffener der Regierungsumbildung wurde. Fassmann kann man natürlich nicht zum (blödsinnigen) „System Kurz“ rechnen, doch als Bildungsminister und damit schulverantwortlicher Minister war er bei allen bisherigen Lockdowns und vielen anderen Corona-Maßnahmen überaus exponiert. Nach dem ehemaligen Gesundheitsminister Anschober (Grüne) fällt nun also schon der zweite Minister in direktem Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen und den sich in diesem Zusammenhang entwickelnden Protesten. Die politische Krise der herrschenden Klasse, insbesondere bezüglich ihres Parteienapparats, vertieft sich damit offenbar weiterhin und die Regierungsumbildung ist deutlicher Ausdruck davon. Ebenso wie die Tatsache, dass in den letzten fünf Jahren ganze sechs Kanzlerwechsel stattfanden (2016-17: Kern, 2017-19: Kurz, 2019-20: Bierlein, 2020-21: Kurz, 2021: Schallenberg, 2021: Nehammer). Fußballvereinen mit so einem Trainerverschleiß attestiert man gewöhnlich keine besonders stabile Entwicklung.
Mit Nehammer und der Neubesetzung verschiedener Ministerposten schlägt die Regierung wohl einen weniger „polarisierenden“ Weg ein als sie ihn unter Kurz verfolgte. Die Reaktionen der Parteienkonkurrenz zeigen dies auch deutlich. Mit der vorhergegangenen schwarz(türkis)-blauen Regierung und dem aggressiven und „polarisierenden“ Kurs der Regierung Kurz II, wagten die kapitalistischen Eliten gewisse Experimente und Vorstöße die zur Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage großer Teile der Bevölkerung führten. Für die Herrschenden waren viele dieser Vorstöße ein Erfolg. Nun geht man dazu über, diese Erfolge zu konsolidieren und abzusichern, weshalb man politisch auf mehr Konsens orientieren wird. Die Kapitalisten sehen noch größere wirtschaftliche und politische Krisen auf sich zukommen, daher werden sie darum bemüht sein, die Reihen ihres politischen Personals verschiedener Parteien zu schließen und sie eher zusammenzubringen (mit Ausnahme derjenigen Parteien, die weiterhin „radikale Opposition“ spielen, während sie in Wahrheit „loyale Opposition“ sind, wie die FPÖ). Möglicherweise wird zur Bewältigung der Corona-Agenda und weiterer wirtschaftlicher und politischer Krisen auch eine neue Regierung unter Einbindung der Sozialdemokratie vorbereitet. Dafür spricht, dass sich die Kapitalisten über kurz oder lang auf eine breitere politische Basis als jetzt stützen werden müssen um trotz ihrer zahlreichen Probleme weiter die Kontrolle behalten zu können. Wann und ob sie diese realisiert werden, hängt allerdings nicht zuletzt von der Entwicklung der Widersprüche der Herrschenden zum Volk und damit vom Klassenkampf ab. Eine Regierungsumbildung (oder eine Neuwahl und damit neue Regierung) kann ihnen dabei höchstens ein bisschen Platz für Manöver verschaffen, kann aber die Probleme nicht grundsätzlich lösen.
Bildquelle: EPP Political Assembly, 20 March 2019, European People‘s Party CC BY 2.0
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