Die Aufregung war groß, als Netanyahu Ende Jänner ankündigte, dass er gegen eine „Zweistaatenlösung“ nach dem Krieg sei – etwas das sogar die USA „unterschiedlich“ sehen. Dieser Vorstoß Netanyahus würde einer offenen Kolonialverwaltung gleichkommen. Gleichzeitig unterscheiden sich die Vorstellungen Netanjahus und der USA nicht grundlegend. Sowohl die Pläne der USA, als auch die Situation vor dem 7. Oktober unterscheiden sich von Netanyahus Vorstellungen vor allem dadurch, „wie schnell“ und „wie weit“ das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser vergewaltigt wird.
„Ich werde keine Kompromisse eingehen, wenn es um die volle israelische Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordans geht - und das steht im Widerspruch zu einem palästinensischen Staat." Diese nicht ganz neue Positionierung des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanyahu sorgte Ende Jänner in den österreichischen Monopolmedien für Aufregung. „Aus jedem Gebiet, aus dem wir uns zurückziehen, bekommen wir Terror, schrecklichen Terror“, und Netanjahu nennt auch gleich den Südlibanon, den Gazastreifen und Teile des Westjordanlands – alles Landstriche, auf die Israel bereits unter ihm als Regierungschef territoriale Ansprüche gestellt hat. (1)
In der Praxis heißt das: die wenigen Autonomierechte, die die Palästinenser vor dem 7. Oktober noch hatten, sollen weiter beschnitten werden, vieles deutet in Richtung einer offen kolonialen Besatzung des Gazastreifens und offensichtlich auch des Westjordanlands. Diese offene Verletzung selbst jener Konventionen, die durch Institutionen der Imperialisten eingeführt wurden, ob Völkerrecht, Menschenrechte oder auch die UN-Erklärungen für Palästina, hat Netanyahu sogar in Widerspruch zur „Schutzmacht“ Israels, zur USA geführt. Der Sprecher des nationalen Sicherheitsrates John Kirby meinte trocken, dass die USA und Israel das „offensichtlich unterschiedlich sehen“, wobei es laut US-Präsident Biden aber auch „verschiedene Arten einer Zweistaatenlösung“ gäbe (1).
Vor dem 7. Oktober – Verstümmelte Selbstbestimmung und „halbe“ Autonomie
Der Ausdruck „Zweistaatenlösung“ lässt vermuten, dass es dabei um einen anerkannten und selbstbestimmten palästinensischen Staat geht, der ein festgelegtes Territorium hat und in dem die Palästinenser selbst über Dinge wie Verwaltung, politische Repräsentanz und die Möglichkeit sich zu verteidigen bestimmen können. Anders als der „UN-sprech“, der den Ausdruck gerne verwendet, haben die Herrschenden in Israel sich meistens dagegen verwehrt, selbst die existierende palästinensische Verwaltung als Staat anzuerkennen. So wird zuletzt im von Netanyahu und Donald Trump vorgelegten „Deal of the century“ von 2020 von einem „palästinensischen Staat“ gesprochen – unter der Bedingung, dass unter anderem alle bislang völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland Israel zugesprochen werden. Natürlich hatte die Ordnung vor dem 7. Oktober – ob anerkannt oder nicht – nicht einmal annähernd etwas mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu tun. Kaum ein Gebiet auf der Welt wird dermaßen von außen kontrolliert wie es der Gazastreifen schon in Zeiten des „Friedens“ wurde. Die israelischen Behörden kontrollierten nicht nur den Personenverkehr an der am besten bewachten Grenze der Welt auf das Schärfste. Auch Warenblockaden gab es vor dem 7. Oktober schon öfter, Infrastruktur wie z.B. für die Stromversorgung wurde durch Israel regelmäßig zerstört, die Wasserversorgung wurde durch Verhinderung von Kläranlagen, der Kontamination von Grundwasser und mittels Wasserrestriktionen für das Westjordanland – Gazas verlässlichster Wasserquelle – gefährdet. (2) Nicht umsonst bezeichnete selbst der Caritas-Chef in Israel den Gaza-Streifen als „Freiluftgefängnis“. (3)
Doch auch im Westjordanland war man von einer eigenständigen palästinensischen Verwaltung weit entfernt. Die israelische Armee hat sich dort im Laufe der Jahre 213 „Siedlungen“ geschaffen, und damit nicht nur völlig entgegen aller internationalen Verträgen immer mehr palästinensisches Land unter den Nagel gerissen: In der größten, der C-Zone, kontrolliert diese auch die Verwaltung, in der A- und B-Zone passiert das unter der Hand. Dass die „Palästinensische Autonomiebehörde“ (PA) unter Führung von Mahmud Abbas im Westjordanland von Israel zugelassen wurde, hatte damit zu tun, dass sie sich in Wahrheit als willige Statthalter für den israelischen Staat bewiesen hat. Zum Beispiel durch die bis 2023 geführten „Sicherheitskoordination“ mit Israel, die bedeutete, dass für Israel unliebsame Personen ausgeliefert, oder gleich in palästinensischen Gefängnissen ermordet werden! Nicht zu Unrecht wurde das von palästinensischer Seite als „Sicherheitskollaboration“ bezeichnet. (4) Erst im Oktober fand im Westjordanland eine Demonstration unter der Losung „Abbas tritt zurück!“ statt. (5) Von „Selbstbestimmung“, also dem Recht der Palästinenser einen eigenständigen Staat zu bilden, mit eigenständiger Verwaltung und Einrichtungen, vom gewaltigen historischen Raub an Land völlig abgesehen, konnte also auch in Zeiten des „Friedens“ nicht die Rede sein. Im „Friedensjahr“ 2022 wurden laut der UN 146 Palästinenser alleine im Westjordanland ermordet (6). Es erübrigt sich festzustellen, dass so ein „Frieden“ für die Palästinenser unerträglich war und der nationale Befreiungskampf dadurch genährt wurde.
Laut Netanyahu – noch weiter gehende Besatzung
Die Situation vor dem 7. Oktober wäre sicherlich die „beste Art der Zweistaatenlösung“, die man von Seiten der USA erwarten kann. Und Netanyahu möchte unmissverständlich weitergehen! Offensichtlich könne man für ihn nicht einmal über die „halbe“ Autonomie im Westjordanland oder die Gefängnisverwaltung im Gazastreifen diskutieren. Natürlich wären „Bestrafungsaktionen“ durch die israelischen Armee, wenn sie der palästinensischen Bevölkerung im Alltag gegenübersteht, umso grausamer. Je mehr die Grenzen der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat aufgeweicht werden, desto stärker wird damit auch die Siedlerbewegung von Israelis in diese Gebiete werden, desto stärker stellen die Herrschenden in Israel die israelische Bevölkerung der palästinensischen als vorgeschobenen „Gegner“ gegenüber, desto mehr wird also auch der Hass dieser Völker gegeneinander geschürt werden. In Wirklichkeit ist dieser Kurs den Netanyahu darlegt auch das folgerichtige Ende des Oslo-Prozess und der „Zweistaatenlösung“, und die Lehren der Geschichte stellen die Frage, zu welchen „Lösungen“ man mit diesem israelischen Staat kommen kann, der das Selbstbestimmungsrecht und die Völkerfreundschaft seiner historischen Beschaffenheit nach vergewaltigen muss.
Doch eines ist auszuschließen: dass diese neue „Lösung“ den Widerstand und den nationalen Befreiungskampf der Palästinenser brechen wird. In der 75-Jährigen Geschichte von Vertreibung und Unterdrückung hat der palästinensische Widerstand verschiedenste Situationen der Fremdbeherrschung erlebt, mit großen bis kleinen „autonomen Gebieten“. Bei einer „Lösung“ mit offener Fremdverwaltung, würde der Drang zur Selbstbestimmung und der Kampf um nationale Befreiung nur noch weiter gestärkt werden. Ebenso würde eine solche offene Verletzung aller Rechte der Palästinenser natürlich die Widersprüche in der ganzen Region verschärfen, und damit einen „Flächenbrand“ enorm anheizen. Das dürfte auch der Grund für die „Unterschiede“ zwischen den Plänen der Herrschenden in Israel und den USA sein, da letzteren die massive Verschärfung der Widersprüche in der Region strategisch ungelegen kommt. Obwohl Israel offensichtlich ein Land im Dienst des Imperialismus – und dabei besonders der USA – ist, gibt es Unterschiede „wie schnell“ und „wie weit“ gegangen werden soll. Einigkeit besteht jedoch darin, eine tatsächliche Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Palästinenser nicht anzuerkennen. Umso stärkere Bedeutung hat deshalb die nationale Befreiungsbewegung in Palästina und der Kampf der Palästinenser für ihre Rechte, denn sie sind es die das Selbstbestimmungsrecht und die nationale Befreiung durch den revolutionären Kampf durchsetzen können.
(1) Zitate: Siehe orf.at: „USA gehen zu Netanjahu auf Distanz“ und sueddeutsche.de: „Israel: Netanjahu schließt Zweistaatenlösung erneut aus und brüskiert Biden.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-usa-gaza-hamas-zweistaatenloesung-1.6336335
(2) Was die Wasserfrage betrifft empfehlen wir die Arbeiten des Geologen Clemens Messerschmid, hier: „Water in Gaza: Problems and Prospects (2011)“
(3) So der ehemalige Leiter von Caritas-Jerusalem, Pater Raed Abushalia (2017) Gaza sei „das größtes Freiluft-Gefängnis der Welt“; https://www.archivioradiovaticana.va/storico/2017/06/14/israel_pal%25C3%25A4stina_gaza_ist_gr%25C3%25B6%25C3%259Ftes_freiluft-gef%25C3%25A4ngnis_der_welt/de-1318869
(4) Siehe Middleeastmonitor: „Palestinian prisoners are synonymous with resistance, not PA collaboration“
(5) orf.at: „Schwieriger Spagat – Gaza-Krieg und die Rolle von Abbas“; In Palästina gab es lange schon innere Kritik an Abbas wegen „Mangel an nationaler Einigkeit“, siehe dazu: middleeastmonitor: „PFLP reaffirms boycott of Palestinian National Council meetings“
(6) Washingtonpost.com: „2022 was deadliest year for West Bank Palestinians in nearly two decades“
Bildquelle: Benjamin_Netanyahu_(25968752048), by US Embassy Tel Aviv, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
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